Unerhört! Langzeitarbeitslose Nichtwähler melden sich zu Wort

Langzeitarbeitslose Nichtwähler aus einer gesellschaftlich verdrängten,
prekären Parallelwelt kommen in dieser Studie zu Wort. Hören wir Ihnen zu!

Interview Prof. Franz Schultheis


Statement von Prof. Franz Schultheis, Universität St. Gallen

Die Studie „Unerhört! Langzeitarbeitslose Nichtwähler melden sich zu Wort“ geht aus einem von uns im Jahr 2016 durchgeführten, sehr unkonventionellen Forschungsprojekt hervor. Es ging um die Frage des Nichtwählens bei Langzeitarbeitslosen, denn die Statistiken weisen klar aus, dass dies die Gruppe mit der geringsten Wahlbeteiligung ist. Uns ging es darum zu fragen: Was sind die Gründe dafür?

Das Besondere an der Studie ist die Art des Forschens, die aus dem Rahmen typischer sozialwissenschaftlicher Forschung fällt: Das Forschungskollektiv, das wir gebildet haben, setzte sich hauptsächlich aus Langzeitarbeitslosen zusammen. Sie traten als Forscher auf, um das Schicksal von anderen Langzeitarbeitslosen zu analysieren. Sie sprachen mit ihnen auf Augenhöhe über ihre Existenzbedingungen und arbeiteten die Motive heraus, warum sie das Wählen verweigern. Üblicherweise machen das Akademiker, die aus ihrem Elfenbeinturm in die soziale Wirklichkeit herausgehen, was ja als solches durchaus zu schätzen ist. Ein Diskutieren auf Augenhöhe kommt dabei aber so gut wie nie zustande. Es kommt der Akademiker, der dann sehr beflissen über die sozialen Bedingungen der anderen spricht, und auf der anderen Seite findet man eher wortkarge Antworten auf die Fragen. Aber hier stellten Menschen, die von derselben sozialen Lage betroffen sind, die Fragen. Was ansonsten immer eine gewisse Scham und Peinlichkeit aufbringt — gegenüber diesen Akademikern über sein eigenes Schicksal zu sprechen — war hier nicht vorhanden. Die Befragten konnten in den Diskussionen sehen, dass man bei den Interviewenden auch Zustimmung fand: „Ja, das kenn ich auch, das hab ich auch so erlebt.“ Und so entstanden dann echte Dialoge.

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Methode und Durchführung

Die Studie "Unerhört! Langzeitlose Nichtwähler melden sich zu Wort" ist eine explorative qualitative Studie. Bei der Durchführung orientiert sich die Studie am französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der feststellte: „Einige der besten Interviews meiner Studie wurden von Nichtsoziologen geführt.“ Deswegen interviewten ehemals oder aktuell Langzeitarbeitslose die langzeitarbeitslosen Nichtwähler/innen. Dieses Gespräch auf Augenhöhe macht es den Interviewten leichter, offen über ihre Erfahrungen und Positionen zu sprechen. Die Interviewerinnen und Interviewer waren außerdem in die Erarbeitung des Interviewleitfadens und in den gesamten Forschungsprozess eingebunden und wurden von Wissenschaftlern begleitet. Über 70 Interviews wurden im ganzen Bundesgebiet geführt. 66 Interviews flossen in die Auswertung mit ein.

Die Studie „Unerhört! Langzeitarbeitslose Nichtwähler melden sich zu Wort“ ba­siert auf den Interviews der Studie „Gib mir was, was ich wählen kann“. In den Interviews wurde nicht nur über die Motive der Wahlenthal­tung gesprochen. Die Menschen, die im gesellschaftlichen Abseits unter den sozialen Existenzbedingungen von Hartz IV leben und selten zu Wort kommen, haben die Gelegenheit genutzt, um aus­giebig über ihre prekäre soziale Situation zu sprechen. Das Interviewmaterial wurde nach wiederkehrenden Themen systematisch durchsucht, Materialsammlungen angelegt und in transversale Analysen gefasst. Die transversalen Analysen leuchten die vergessene und im Dunkeln liegende Lebenswirklichkeit von Menschen im Hartz IV-Bezug intensiv aus.

Ergebnisse der Studie
Unerhört! Langzeitarbeitslose Nichtwähler melden sich zu Wort

Die Interviews wurden in Form von transversalen Analysen ausgewertet. Diese thematischen Querschnittsanalysen beziehen alle Interviews mit ein. Sie machen zwei Dinge deutlich. Erstens erleben Langzeitarbeitslose, dass sie bei politischen Entscheidungen benachteiligt werden. Zweitens sind sie aufgrund ihrer sozioökonomischen Situation und gesellschaftlichen Ausgrenzung gelähmt, so dass sie keine Kraft und Zuversicht haben, sich mit Politik und Wahlen auseinanderzusetzen.
Ein Hauptmotiv der langzeitarbeitslosen Nichtwähler schält sich deutlich heraus: „An meiner Lebenssituation verbessert sich nichts“. Darum beschreibt die Studie auch, was sich konkret ändern muss. Langzeitarbeitslose Nichtwähler warten schon lange auf Lösungen und je länger die Langzeitarbeitslosigkeit andauert, umso größer wird die Perspektivlosigkeit.
Deswegen wurde auch die Politik mit den Studien-Ergebnissen konfrontiert. Alle im Bundestag vertretenen Parteien wurden angeschrieben und gefragt „Was wollen Sie gegen die soziale Spaltung bei der Wahlbeteiligung tun?“ Die Studie dokumentiert die Antworten. So ergibt sich die Möglichkeit, über die verschiedenen Wahrnehmungen ins Gespräch zu kommen und schließlich Lösungen zu entwickeln.


Im Folgenden finden Sie die Themen der Transversalen Analysen und eine kurze Beschreibung.

Hartz IV: Vom (Über-)Leben in verwalteter Armut
Hartz IV-Bezieher sind zu gesellschaftlicher Nicht-Existenz verdammt. Dies betrifft nicht nur die be­grenzten materiellen Teilhabechancen am Alltag der Konsum- und Freizeitgesellschaft. Vielmehr arbeiten Hartz IV-Empfänger aus Scham selbst am Unsichtbar-Machen ihrer Existenz mit.

„Aber wo gibt’s denn bitteschön die Vertretung der Hartz IV-Empfänger?“
Zur gesellschaftlichen und demokratischen Beteiligung von (Langzeit-) Arbeitslosen
Zentral für die Entscheidung zur Nichtwahl ist fehlendes Vertrauen und die Enttäuschung über nicht eingehaltene Wahlversprechen. Gleichzeitig schätzen die Befragten politisches und soziales Engagement und plädieren für direktdemokratische Partizipationsformen.

„Sie kommen kaum rum, rum zum Leben. [...] Teilhabe am sozialen Leben, das können Sie alles vergessen.“
Ausgrenzungserfahrungen von Langzeitarbeitslosen
Viele Langzeitarbeitslose machen Ausgrenzungserfahrungen durch Nicht-Berücksichtigung der eigenen Interessen im politischen System, Vorurteile und der geringe Spielraum bei der gesellschaftlichen Teilhabe. Dies belastet auch die Beziehungen zu Familie, Freunden und Bekannten.

Alleinerziehende Frauen: Besonderheiten einer Lebenslage
Erfahrungen Alleinerziehender mit Hartz IV
Bei den alleinerziehenden Hartz IV-Beziehern liegt der Anteil der Frauen bei 80 Prozent. Diese haben es besonders schwer einen Job zu finden, denn es gilt: „Ohne Job kein Kita-Platz, ohne Kita-Platz kein Job“.

„Warum habe ich meine Arbeit nicht geschafft? Weil der Körper einfach nicht mehr mitmacht.“
Krankheit macht arbeitslos. Arbeitslosigkeit macht krank
Arbeitslosigkeit und gravierende gesundheitliche Probleme verstärken sich beide in einer Abwärtsspirale. Die Gesundheitsversorgung zielt aber meistens darauf, die volle Beschäftigungsfähigkeit wiederherzustellen. Arbeit, die an die ein­geschränkte Leistungsfähigkeit von Betroffenen angepasst ist, kann dagegen zur Gesunderhaltung beitragen.

Wenn der Kokon zum Gefängnis wird
Entfaltungsmöglichkeiten und Hemmnisse in Hartz IV
Die Organisation des und die Behandlung auf dem Jobcenter schafft bei Arbeitslosen ein Spannungsverhältnis von Bevormundung und Autonomie, von Entfaltungsmöglich­keiten und Hemmnisse im Hartz IV-Bezug. Diese Situation könnte durch Anpassungen der Jobcenter-Struktur verbessert werden.

„Die Vergangenheit war arg schwer, die Gegenwart ist noch schwerer, Gott sei Dank haben wir keine Zukunft.“
Perspektivlosigkeit und Zukunftsängste von Langzeitarbeitslosen
Insgesamt blicken die meisten Befragten pessimistisch auf ihre Zukunft. Dazu gehört die Angst vor Altersarmut und Krankheit sowie die Zukunft ihrer Kinder. Die Befragten sehen kaum eine Zukunfts­perspektive für sich.

„Also warum soll man dann noch was tun?“
Sicht auf die politische und gesellschaftliche Situation
Politisch zeichnen die Befragten ein düsteres Bild: Spaltungen in der Gesellschaft, die soziale Lage sowie die Aufnahme von Flüchtlingen destabilisier­ten Deutschland. Als Gegenbild rufen sie immer wieder die als „sozial gerecht“ bezeichnete alte Bundesrepublik (Bonner Republik) auf.

„Und vor allem wie ein Mensch behandelt wird.“
Lösungsvorschläge, Forderungen und Wünsche der Befragten
Die Befragten schreiben der Politik ein hohes Maß an Möglichkeiten zu, ihr Leben zu verbessern, und erwarten dies auch. Sie machen Verbesserungsvorschläge, vor allem für die Jobcenter. Sie wünschen sich, dass die Politiker mehr zuhören und sich mehr um die Menschen kümmern.

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Die Studie „Unerhört! Langzeitarbeitslose Nichtwähler melden sich zu Wort“ können Sie hier herunterladen ( (PDF, 1,31 MB)



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